„Am farbigen Abglanz haben wir das Leben!“

Zur Inszenierung

(Dieser Text ist eine gekürzte Version des Essays von Dramaturg Matthias Seier aus dem Programmheft.)

Goethe schildert in seinem Opus Magnum FAUST die Geschichte eines Menschen, dem alles, was wir haben können und erhoffen dürfen, einfach nicht genug ist. Faust ist ein älterer Gelehrter, an dem schon lang der Weltekel frisst. All das aufgehäufte Wissen hat ihn nicht zur Erkenntnis gebracht, er gilt als scheu und weltfremd, er fühlt sich einsam, zwecklos, in jeglicher Hinsicht unbefriedigt. Seine todessehnsüchtigen Drogen-Trips mindern den Weltschmerz nur kurz. Und die düstere Magie, die er betreibt, lässt ihn zwar erahnen, dass es auf dieser Welt mehr zu wissen und erleben gibt, doch das Tor zur anderen Seite bleibt ihm verschlossen.

Soll es das also gewesen sein? Was, wenn denn das Leben einen Sinn hätte, und zusätzlich auch noch erfüllend wäre? Auftritt Mephistopheles. Er verspricht Faust sinnstiftendes, rauschhaftes Leben – pur, roh, echt. Faust zögert nicht lang – in Hoffnung auf den einen endgültigen, wahrhaftigen Augenblick des ungefilterten Lebensglücks schließt er den berühmten Teufelspakt. Faust wird in Folge zum ewig Rastlosen, der die Welt als Beute sieht, die Mitmenschen als Manövriermasse und die Zeit als Pfand. Mephisto ist dabei sein treuer Wegbegleiter, buchstäblich im Schatten Fausts, mal sein Ratgeber und mal sein Verderber, in sich selbst ebenso unstet und zerrissen wie es alle Figuren dieser Tragödie sind. Und es erscheint Margarete, Gretchen, das Unschuldige und Schöne im Angesicht des Verderbens.

Neben diesen drei Hauptfiguren Faust/Mephisto/Gretchen gibt es eine vierte: das Licht. Es fällt durch all die Risse im Schicksal ein. Goethes Regieanweisungen sind im FAUST recht sparsam, geben jedoch strenge Vorgaben seitens der Beleuchtung. Das verwundert kaum – es gibt wohl kein Naturphänomen, von dem Goethe in seiner künstlerischen wie naturwissenschaftlichen Arbeit besessener war. FAUST ist bereits in Goethes Anlage ein synästhetisches Projekt, in dessen Zentrum der Text steht, drumherum aber bewusstseinserweiternde Trips, Nachbilder und Blendungen, in der Dunkelheit ineinander verschmelzende Figuren. Licht und Musik, Beleuchtung und Sprache sind miteinander verschränkt. FAUST ist immer wieder auch der Versuch einer sinnlichen Überwältigung.

Goethe und sein Faust sterben wenige Jahre zu früh, um die neue Technologie der Fotografie noch miterleben zu können. Sie wären vermutlich begeistert gewesen: Der Blitz einer Fotografie, der die umgebende Dunkelheit kurz erhellt und einzufangen versucht. Das Licht, das auf den fotografischen Film einwirkt. Das plötzliche, gespensterhafte Aufsprießen der Farben auf dem Fotoabzug in der Dunkelkammer. Das Fixieren eines vergänglichen Moments auf ewig. Das Fotografieren geht seit jeher mit der alten Sehnsucht einher, den Moment einzufrieren, ihn im Nacherleben konservierbar zu machen. Es ist dieser alte, vergebliche Drang, der Faust mit Mephistopheles den Pakt besiegeln lässt: Augenblick, verweile doch. Eine besondere Form der Alchemie ergibt sich dabei, wenn Fotografie und Theater aufeinandertreffen. Es sind beides Kunstformen, die sich am Gegenwärtigen abarbeiten, allerdings mit gänzlich verschiedenen Methoden. Und doch müssen sie sich dabei immer wieder der Vergänglichkeit und Unwiederholbarkeit des Augenblicks stellen. Es sind Kunstformen, die gerade im Flüchtigen, im Plötzlichen und Momenthaften zu sich selbst finden.

In dieser Inszenierung entsteht ein Grenzgang zwischen Fotografie und Theater. Der Bühnenraum des Volkstheaters wird zum großen Fotostudio und zur Dunkelkammer gleichermaßen. Das Ensemble des Volkstheaters schlüpft in Kostüme und Masken, in Räume und Environments. Die Grenzen zwischen Schauspiel und Bildbetrachtung verschwimmen, zwischen Klang und Wort, zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Faust und Mephisto.

Denn je nachdem, welcher Bildausschnitt gewählt wird, wie man sich zeigen möchte, weshalb und für wen fotografiert wird, verändert sich das Motiv. Wessen Perspektive wird gewählt; welche Blickwinkel übernehme ich, wie kuratiere ich mein Leben? Dass in einem Menschen Spiegelungen und Vielheiten stecken, schildert Goethe in den Szenen „Hexenküche“ und „Walpurgisnacht“. Dämonen, Zwischenwesen und andere Party People bringen Faust an den Rand der Ich-Auflösung und darüber hinaus. „Was seh’ ich? Welch ein himmlisch Bild zeigt sich in diesem Zauberspiegel?“, fragt er in der Hexenküche, als er beim Blick in einen Spiegel plötzlich nicht sich selbst, sondern ein anderes Wesen erblickt. Ist dieser Zauberspiegel vielleicht nichts anderes als ein Kameraobjektiv?

Was geschieht also, wenn man sein Objektiv auf so widersprüchliche Figuren wie Faust oder den Teufel richtet? Wird die Kamera selbst zum Prisma? Streut es das Licht der Figuren und zerbricht es in neue Einzelteile? Wird sie zum verwunschenen Zauberspiegel, der die Figuren verwandelt, verdoppelt, verjüngt? Erfahren sie sich so, wie sie sich noch nie erfahren haben? Was ist hier noch Gretchen, wer vielleicht Faust, und wo schon Mephisto? Welche Bilder machen wir uns, welche 200 Jahre Rezeptionsgeschichte bildet man ab? Was geschieht, wenn man FAUST als ebendiesen Kampf zwischen Ewigkeit und Augenblick, zwischen Abglanz und Realität, zwischen Blitz und Finsternis zu deuten versucht? Vielleicht ging Goethe also bei all seinen visionären, uns heute noch tragenden Überlegungen zum Widerschein und Augenblick ein einziges Mal nicht weit genug. Vielleicht wohnen nicht bloß zwei Seelen, ach!, in unserer Brust. Vielleicht ist es ein Spektrum unendlich vieler Farben.