No family is safe / when we sashay.
Queerfeindlichkeit unter dem Deckmantel des Familienschutzes ist ein beliebtes Werkzeug der politischen Rechten. Dramaturg Matthias Seier erklärt, wieso.
Als die Türkis Rosa Lila Villa an der Linken Wienzeile im Frühjahr 2023 eine Märchenlesung für Kinder organisierte, konnte sich das Team wohl kaum vorstellen, dass aus der harmlosen Vorlesestunde ein Politikum ersten Ranges werden sollte. Die ÖVP warnte in einer eigenen Presseaussendung, Kinder würden durch derartige Veranstaltungen in ihrer „Geschlechtsidentität verunsichert“. Die FPÖ legte noch eine Schippe drauf und fabulierte in einer eigens beantragten Sondersitzung im Rathaus, Drag Queens „lebten hier ihre Lust vor Kindern aus“. Rechte Telegram-Gruppen und Blogs liefen Sturm. Am Veranstaltungstag schließlich reckten knapp 100 Demonstrant:innen ein großes, weiß-rotes Banner mit der Aufschrift SCHÜTZT UNSERE KINDER in die Luft. Die Lesung selbst konnte nur unter Polizeischutz durchgeführt werden.
Zwei Jahre später, März 2025. Das ungarische Parlament beschließt mit überwältigender Mehrheit eine Verschärfung des Versammlungsrechts. Künftig wird mit Geldstrafen geahndet, eine Versammlung zu organisieren oder daran teilzunehmen, wenn diese Homosexualität oder Queerness gegenüber Minderjährigen „darstellt“ oder gar „fördert“. Zudem erhält die Polizei die Befugnis, Teilnehmer:innen mithilfe von Gesichtserkennungssystemen zu identifizieren. Der liberale Budapester Bürgermeister Karácsony spricht bei der Vienna Pride: „If Pride can be banned in an EU member state, then no EU citizen is safe.“ (Ironie der Geschichte: Eine Gesetzeslücke machte Pride 2025 in Budapest trotzdem möglich – und der internationale Aufschrei verwandelte sie in die größte Parade, die die Stadt je gesehen hatte.)
Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Allein in den letzten 12 Monaten geriet mal eine Zeichnung mit queeren Lebensentwürfen im Betriebskindergarten des ORFs in den Fokus der „Kinderschützer“ – mal flog eine rechtsextreme Terror-Gruppe auf, die als selbsternannte „Pedo Hunters“ schwule Männer in Wien und Niederösterreich kurzerhand zu Pädophilen erklärten, misshandelten und die Videos ihrer Taten ins Netz stellten.
All diesen Vorfällen ist eins gemein: Kinderschutz und die Bewahrung der „Kernfamilie“ aus Mutter, Vater, Kind sind Argumente, die man mit großer Empörungsgeste vor sich herträgt, doch eigentlich geht es um was Anderes um Diskriminierung, Entrechtung und Verfolgung von Minderheiten. Durch eine insinuierte Nähe zwischen Queerness und Pädophilie sollen Abbildung und Repräsentation nicht-heterosexueller Lebensentwürfe verunmöglicht werden. Die familienpolitische Sprecherin der AfD Niedersachsen, Verena Behrendt, twitterte zum Beispiel erst vor wenigen Monaten, die Regenbogenflagge stehe für „Machenschaften pädophiler Lobbygruppen“, das „Bedrängen von Kleinkindern mit Transsexualität“ und das „Kuscheln fremder Männer mit Kindergartengruppen“. (Mittlerweile ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen sie wegen Volksverhetzung.)
All das ist nicht neu. Queerfeindlichkeit unter dem Deckmantel des Familienschutzes ist ein beliebtes Werkzeug im rechten Kulturkampf, eben weil jener Ansatz als Totschlagargument bestens Gehör findet: Schließlich möchte ja kein Mensch Kinder gefährden, bzw. sich vorwerfen lassen, sie zu gefährden. Schon die Nazis brandmarkten Homosexuelle als „Verführer der Jugend“, die die öffentliche Moral zersetzen und die Geburtenrate gefährden würden. Die moderne Version der homophoben Denkfigur entstammt vor allem der amerikanischen Organisation Save Our Children aus den 1970ern, angeführt von der Countrysängerin Anita Bryant. Bryant, die auch als Werbemodel für Orangensaft berühmt wurde, ließ in ihren Broschüren und Pressekonferenzen unter anderem folgende Sätze vom Stapel: „Die öffentliche Akzeptanz bekennender homosexueller Lehrer könnte zu mehr Homosexualität führen, indem sie Schüler dazu verleitet, diese als akzeptablen Lebensstil anzusehen. Als Mutter weiß ich, dass Homosexuelle biologisch nicht in der Lage sind, Kinder zu erzeugen; deshalb müssen sie unsere Kinder rekrutieren.“
Der Literaturwissenschaftler und Queertheoretiker Lee Edelman schoss in seinem 2004 erschienenen Buch No Future: Queer Theory and the Death Drive gegen diesen essentialistischen Unsinn zurück – mit einer eigenen Form von Polemik. Edelman argumentierte, die gesellschaftliche Fixierung auf das „Kind an sich“ als Symbol für Fortschritt und Hoffnung schlösse queer-freundliche Politik strukturell aus. In der Logik der „Zukunft“ gelte: Nur, wer Kinder in die Welt setzt und in heteronormativen Bahnen erzieht, zählt in der Politik. Alles, was sich dieser Norm verweigert, werde marginalisiert, pathologisiert oder als Bedrohung inszeniert.
Queere Politik dürfe sich dieser „Fiktion von Zukunft“ aber nicht unterwerfen, argumentiert Edelman – und geht damit noch einen Schritt weiter: Die Fixierung auf Kinder und Reproduktion erscheint in diesem Licht nämlich nicht als neutrales moralisches Argument, sondern als politisches Schwert. Aus dieser Perspektive müssen Märchenlesungen, Pride-Paraden oder queere Bildungsinhalte nicht als „Gefahr für die Jugend“ wahrgenommen werden, sondern als notwendige Störung eines Systems, das Vielfalt unsichtbar machen will. Queerness verweigert sich der Zukunft – und gerade darin liegt ihre subversive Kraft: „We might like to believe that with patience, with work, with generous contributions to lobbying groups or generous participation in activist groups or generous doses of legal savvy and electoral sophistication, the future will hold a place for us. […] But there are no queers in that future as there can be no future for queers, chosen as they are to bear the bad tidings that there can be no future at all.”
Edelmans Kritik wird besonders greifbar, wenn man sich die realen Auswirkungen queerer Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit auf Kinder anschaut. Denn die Fakten sind längst geklärt: Kein Kind wird lesbisch, schwul oder trans, nur weil eine queere Figur in einem Schulbuch oder im Kinderfernsehen auftaucht. Doch vor allem Kinder, die sich nicht ausschließlich in heteronormativen Bahnen wiederfinden, finden in diesen Inhalten etwas, was ihnen sonst oft fehlt: Orientierung, Identifikation, Ermutigung. „Queere Figuren stützen Kinder in ihrer Identitätsfindung und im Annehmen des eigenen Körpers“, erklärt der Sexualwissenschaftler Jürgen Voß. „Sie beugen gerade auch durch die Förderung der Selbstbestimmung vor, dass Kinder in depressive Stimmungen geraten, dass sie keinen Rat oder Unterstützung bei Erwachsenen finden können.“ Mit anderen Worten: Wer Kindern wirklich etwas Gutes tun will, schützt sie nicht vor Drag Queens, sondern vor Intoleranz.
Dieser Text stammt aus dem Programmheft der Produktion THE BOYS ARE KISSING. Das Stück von Zak Zarafshan in der Regie von Martina Gredler ist seit 25. September 2025 im Repertoire des Volkstheaters.

