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Februar 2025, zehn Tage vor der Premiere. Nach der Vormittagsprobe gehen Fräulein-Else-Regisseurin Leonie Böhm und die Schauspielerin des Jahres Julia Riedler mit Dramaturg Matthias Seier zum Japaner um die Ecke. Das Aufnahmegerät läuft mit.

Interview: Matthias Seier
Fotos: Lukas Gansterer/BÜHNE, Marcel Urlaub

Julia, wann oder wie ist dir FRÄULEIN ELSE zum ersten Mal begegnet?

Julia Riedler: Mit 18 war ich Regieassistentin am Salzburger Landestheater. Damals hat Elisabeth Nelhiebel dort FRÄULEIN ELSE gespielt, und die Novelle wurde schlagartig zu meinem Lieblingstext, bis heute noch. Ich glaube, damals in Salzburg war ich auch das erste Mal in einem Theaterabend, in dem es um eine Frauenfigur ging. Elses Gedankenstrom ist berührend, so nuanciert und komplex, sie war mir immer ein Vorbild. Ich habe später verschiedene persönliche Situationen erlebt, die für mich in dem Moment ausweglos erschienen und auch sehr missbräuchlich. Es gab zum Beispiel eine Phase meines Lebens, in der ich, würde ich aus jetziger Sicht sagen, mit sexualisiertem Machtmissbrauch konfrontiert war. Irgendwie war Else dabei immer Begleiterin, ich bin mit ihr zusammen älter geworden.

Du arbeitest bereits zum fünften Mal mit Leonie Böhm. Warum wolltest du FRÄULEIN ELSE explizit mit ihr als Regisseurin erarbeiten?

Julia Riedler: FRÄULEIN ELSE geht nur mit Leonie! Es gibt eigentlich keine größere Expertin für Vergegenwärtigung auf der Theaterbühne als sie. Der Text ist ja ein Stream of Consciousness, das heißt, Else denkt ungefiltert ihre Gedanken und lässt uns daran teilhaben. Und das ist exakt das, was auch Leonies Arbeiten ausmachen. Diese mutige Transparenz, die Schnitzler seiner Figur verleiht, ist genau der Spielauftrag, den Leonie ihren Schauspieler:innen mitgibt – das ist für mich einfach ein unglaubliches konzeptuelles Match.

Leonie, was ist das Besondere an Julia?

Leonie Böhm: Ich würde das, was Julia gerade über Schnitzler und meine Arbeitsweise gesagt hat, auch über Julias Spielweise sagen. Wenn du spielst, Julia, versuchst du stets, dich voll dem Moment auszuliefern und die Gedanken immer aktuell zu halten. Das ist ja nicht der Verdienst meiner Arbeitsweise, sondern einfach total deine Theaterauffassung. Wenn du auf der Bühne stehst, kann man dir begegnen. Was hast du vorhin über Schnitzler gesagt? „Mutige Transparenz“? Danach sehne ich mich auch. In diesem Sich-Zeigen und Etwas-Gemeinsam-Verhandeln können Antworten auf grundsätzliche Fragen liegen: Können wir noch Gemeinschaften bilden? Wie könnte eine bessere Zukunft aussehen?

FRÄULEIN ELSE ist die Geschichte eines 100-jährigen #MeToo-Falls. Wir haben auf den Proben viel über den Mut von Gisèle Pelicot gesprochen, darüber, dass die Scham die Seite wechseln muss.

Julia Riedler: Ja. Wenn man Schnitzlers Novelle liest, ist man heimlich als Voyeur bei Elses Gedanken dabei. In dem Moment aber, wo man diese Gedanken auf einer Bühne für hunderte Menschen veräußert, schenkt man sie einer Öffentlichkeit. Es entsteht also automatisch ein krasser, politischer Schritt der Transparenz. Dieses schambesetzte Problem Elses wird plötzlich geteilt, es wird unser aller Problem. Und erst dadurch können gewisse Prozesse in Gang kommen.

Bei Schnitzler aber hat Else eben keine weltweite Aufmerksamkeit im Rücken, alles bleibt verborgen und geheim, sie muss sich die Befreiung von der Scham quasi noch autodidaktisch erkämpfen.

Leonie Böhm: Diesen Aspekt finde ich in Schnitzlers Novelle auch so tief tragisch: dass sie mit ihren Gedanken allein bleibt. Niemand ist ihr gegenüber solidarisch oder zeigt Zivilcourage, weil niemand von ihrer Situation erfährt. Aber indem wir diese Gedanken auf einer Bühne laut aussprechen, können wir ausprobieren, was geschieht, wenn ihr Problem öffentlich wird.

Julia Riedler: Ja, dadurch lässt sich Elses Lage ganz anders bewerten. Denn die Novelle selbst hängt ja in einer ständigen Bewertungsschleife: Wie wird Else von den anderen bewertet, wie bewertet sie die anderen, wie bewertet Else sich selbst? Durch die offene Kommunikation mit dem Publikum kann Else diesen Bewertungen anders begegnen und sie vielleicht auch überwinden, weg von der Scham hin zur Solidarität.

Leonie Böhm: Wie Else sich in ihren Tagträumen eine neue Freiheit erträumt, oder dass sie sich am Ende im Salon vor allen öffentlich entkleidet – die Radikalität in diesem Text von 1924 ist schon unglaublich, wie eine Vision gegenwärtiger feministischer Performance- Künstlerinnen, die auch unter Einsatz ihres Körpers das Patriarchat herausfordern. Mir wird immer klarer, was für ein Vorbild Else ist. Beim ersten Lesen erschien sie mir noch naiver, mädchenhafter – vielleicht, weil ich die Dringlichkeit ihres Handelns noch gar nicht nachvollziehen konnte.

Julia Riedler: Und doch gibt es natürlich eine große, große Differenz zum Fall Pelicot. Dort gibt es belastbare Beweismittel, der Mann hat alle Taten mitgefilmt und seine Frau in nicht verhandelbarer Unmündigkeit vergewaltigen lassen. Als Gesellschaft können wir uns Gott sei Dank darauf einigen, dass es kaum schlimmer und eindeutiger geht. Umso schwieriger sind dann aber die Graubereiche.

„Ich sehne mich nach der Utopie, dass Menschen wirklich versuchen sich zu lieben oder zu nähern und auch zweckfrei füreinander da zu sein.“
Leonie Böhm

Ist das Angebot von Dorsday an Else so ein Graubereich?

Julia Riedler: Naja, es ist auf jeden Fall eine ambivalente Situation. Else ist ja diejenige, die Dorsday anpumpt und 30.000 von ihm will. Dorsday will dafür was im Austausch. Über diese Begegnung zwischen Else und Dorsday machen wir uns bei den Proben viele Gedanken. Flirtet sie ihn da vielleicht auch an? Wo lässt sie sich drauf ein, zieht zu wenig Grenzen? Das ist ja das Perfide am Machtmissbrauch, dass er subtil die Grenzen verschieben lässt und man sich in Situationen reinreden lässt, bei denen man im Nachhinein weiß, dass sie nicht recht waren und man sich anders hätte verhalten müssen. Man wird bei vollem Bewusstsein in die Unmündigkeit hineingedrängt.

Braucht es für das Wiedererlangen der Mündigkeit also Öffentlichkeit? Oder konkret zur Inszenierung: Weshalb sind euch die Ansprachen und Improvisationen mit dem Publikum so wichtig?

LB: Weil diese mitbefeuernden Momente Ausgangspunkte sein können, um Diskurse in Gang zu bringen. Ich finde es total wichtig, dass Leute angehalten werden, miteinander ins Gespräch zu kommen, live mitzudenken und sich mitverantwortlich zu fühlen. Und immer das Gefühl haben, die Themen haben was mit ihrem Leben zu tun, jetzt, hier, ganz akut.

Julia Riedler: Das Problem des Machtmissbrauchs ist schließlich ein systemisches Problem. Es stecken alle mit drin, alle bedingen dieses Problem gesellschaftlich mit, und könnten es ebenso aber auch vielleicht gemeinschaftlich lösen.

Leonie Böhm: Das Wichtigste am Theater ist für mich, dass sich Menschen real und analog versammeln. Dieser echte Austausch ist für mich zentral, diese Gewährleistung des Kontakts. Deswegen sind Impros auch so wichtig: Das Gehirn ist beim Erfinden und Gestalten auf eine ganz andere Art tätig, als wenn es eingeübte Aktionen befolgt. Darin sehe ich auch eine politische Komponente: Ich unterwerfe mich nicht einer festgelegten Idee, sondern ich gehe damit um oder gebe ihr ganz neue Bedeutung. Theater kann Forschungsmedium für persönliche oder gemeinschaftliche Freiheit sein. Wo sonst gibt es denn noch die Möglichkeit, sich reale, sinnliche Räume gemeinsam neu zu erspielen oder zu erobern? Die Grundvoraussetzung, die uns Theater da schenkt, ist wirklich spektakulär.

In FRÄULEIN ELSE geht es um den Warenwert von Körpern, um die Kommodifizierung insbesondere weiblicher Körper zur sexualisierten Ware. Aber erhalten Körper und Gefühle auf einer Theaterbühne nicht auch automatisch Warencharakter?

Leonie Böhm: Ich sehne mich nach der Utopie, dass Menschen wirklich versuchen sich zu lieben oder zu nähern und auch zweckfrei füreinander da zu sein. Aber ich finde es am Theater auch mega erlösend, dass die Spieler:innen ihren Körper, ihre Gefühle, ihre Sprache, alles eigentlich verhandeln können, wenn sie wollen. Im Theater ist schließlich klar: Leute zahlen Geld und dafür dürfen sie andere Leute angucken, die einen sitzen im Dunkeln, die anderen sind im Licht. Und selbst meine tiefe Emotion kann hier Ware werden. Aber im Theater ist es immerhin ein ehrlicher Deal. Bis in intime Beziehungen fragt man sich mitunter, was eigentlich zweckfrei geschieht oder ab wann es doch ein unendliches Tauschverhältnis ist. Emotionen oder Körper können überall zur Ware werden, nur dass wir es in den meisten Kontexten tabuisieren. Theater erlaubt einem, einen Gedanken oder ein Gefühl auf die Bühne zu legen und dann kann man sich es angucken, man darf mit ihm spielen, man darf es reflektieren und so weiter. Und diese Ehrlichkeit, die darin liegt, ist der erste Schritt zu einer aufrichtigen Auseinandersetzung. Und die ist letztendlich offen für Veränderung und vom Interesse gespeist.

Julia Riedler: Ich empfinde den Körper auf der Bühne gar nicht so stark als Ware, sondern eher die Gedanken. Das Aufregendste ist für mich, die Intimität eines Gedankens zur Verfügung zu stellen. Der Körper ist da bloß das Hilfsmittel, der den Gedanken die nötige Unmittelbarkeit gibt. Einen neuen Gedanken mit einem Publikum zu teilen, das kann sich schrecklich aufregend anfühlen. Und vielleicht auch intimer als das Teilen eines Körpers.

Dieser Text stammt aus dem Programmheft der Produktion FRÄULEIN ELSE. Das Stück nach Arthur Schnitzler in der Regie von Leonie Böhm ist seit 8. Februar 2025 im Repertoire des Volkstheaters.